Im Bereich der Lehre und Bildung sprechen wir häufig von konkreten Bildungszielen. Denn wir Menschen brauchen Ziele. Wenn wir diese nicht haben, sind wir orientierungslos wie ein Navigationssystem ohne Ankunftsort.

Der Sinn von dem, was wir tun, ist nicht erkennbar und somit fallen auch die Ergebnisse oftmals unbefriedigend aus. Wenn wir über Digitalisierung der (Aus)-Bildung sprechen, fehlt aber oftmals genau das. Wir scheinen zu versuchen, die Mittel zu perfektionieren, haben aber folgende wichtigen Fragen aus den Augen verloren: Wo geht die Reise der Bildung denn überhaupt hin? Welcher großen Vision und welchen untergeordneten Zielen unterliegt unsere tägliche Arbeit heute und in Zukunft? Welche individuellen Bedürfnisse und Interessen der Menschen gilt es zu beachten? In diesem Artikel versuche ich, darauf eine Antwort zu finden.
 

Die Bildungsziele haben sich verändert

Wie im Artikel zu 10 Thesen für eine bessere Bildungswelt bereits angesprochen, steht längst außer Frage, dass sich die Bildungsziele im letzten Jahrhundert seit der industriellen Revolution grundlegend verändert haben. War früher ein standardisierendes System sinnvoll, um repetitive Tätigkeiten der Menschen für die Arbeitswelt (v.a. Fabriken) zu fördern, werden diese Tätigkeiten unlängst von Maschinen und Algorithmen übernommen. Welche Kompetenzen bleiben für den Menschen im Zeitalter der Digitalisierung also noch übrig und mit welchen Methoden lassen sich die notwendigen Fähigkeiten vermitteln? Auch zu dieser Frage wurde im Artikel „Digitalisierung und Lernen 4.0“  bereits Stellung genommen.
 

Das nobelste aller Bildungsziele: 'Mensch sein'

Wenn alte Ziele überholt sind, welche neuen Bildungsziele sind es wert, gefördert zu werden? Was wäre eine umfassende, übergeordnete Vision für unsere Entwicklung und Bildungszukunft? Gibt es ein Konzept für einen Orientierungsplan, welcher als Richtschnur für alle Bemühungen, Methoden, Medien, Materialien etc. herhalten könnte? 
In meiner langjährigen Arbeit als E-Learning Trainer & Berater bin ich zu folgender Idee als Essenz gekommen: „Was, wenn ‚Mensch sein‘ das Ziel von Bildung wäre?“. Dies mag zunächst etwas unklar und abstrakt klingen. Was genau ist mit diesem Bildungsziel gemeint?
 

Exkurs zum menschlichen Verstand

Dazu müssen wir ein Stück weiter ausholen: Zum Zeitpunkt der Geburt eines jeden Menschen besteht dieser fast vollständig aus reinem Bewusstsein. So wie ein metaphorischer Computer, auf dem quasi noch keine Software aufgespielt wurde. Erst danach bildet sich (vor allem in den ersten sieben Jahren, aber auch darüber hinaus) durch kulturelle Konditionierung, Erziehung, Medien, Erfahrungen - und natürlich auch durch Bildung - der menschliche Verstand. In diesem Verstand liegen Konzepte, Glaubenssätze und Erfahrungen, die wie eine Art ‚Filter‘ wirken, wie wir die Welt und uns selbst sehen und bewerten: Das menschliche Ego. 

Dieser Filter bestimmt unsere tägliche Realität. Was erst einmal positiv und praktisch aussieht, kann aber sehr oft problematisch werden: Durch die Konditionierung von außen entstehen gedankliche Erinnerungen, die Ängste auslösen, Blockaden hervorrufen, unreflektierte Fehleinschätzungen und Vorurteile generieren und nicht selten zu Orientierungslosigkeit, Stress und Überforderung führen. Gemeint ist die ‚Stimme im Kopf‘, die uns über Gedanken ununterbrochen eine Geschichte über uns selbst erzählt und, ohne dass uns das bewusst ist, einen sehr großen Teil unseres Lebens bestimmt. Nicht selten stammen negative Glaubenssätze über uns selbst auch aus der eigenen Schulzeit. Sätze wie „das kannst du nicht“ oder „so geht das nicht“ führen oft zu einem falschen Selbstbild. Man erkennt sein eigenes Potential und Talent nicht oder schöpft es zumindest nicht aus.
 

Bewusstes Spüren von Gedanken und Emotionen

In dem Moment jedoch, in welchem sich der Mensch dieser Stimme bewusst wird und diese urteilsfrei beobachtet, tritt hinter dem Ego der echte Mensch wieder hervor. „Der, der wir eigentlich sind“. Das Bewusstsein, welches wir seit unserer Geburt in uns haben, das jedoch durch äußere Konditionierung zugedeckt wurde. Durch dieses reine, einfache ‚Sein‘ im gegenwärtigen Moment, ohne unfreiwillige Projektionen in die Vergangenheit (welche lediglich aus Gedanken bzw. Erinnerungen besteht) und die Zukunft (welche ebenfalls nur aus Gedanken besteht) entsteht in unseren Köpfen plötzlich Stille und tiefe innere Zufriedenheit. Denn auch wenn sich viele Menschen dessen nicht bewusst sind, es sind oftmals nur die Gedanken über Lebensumstände, die Stress generieren - und nicht die Umstände selbst.
 

Aus Bewusstsein entstehen die wichtigsten Kompetenzen für unsere Zukunft

Was hat das nun mit Bildung und Bildungszielen zu tun? Nun, genau in diesem beschriebenen Zustand der Stille, ohne von außen induzierten Gedanken, lässt sich bei der Vermittlung von Wissen und der Förderung von Kompetenzen im Bildungssektor aktiv ansetzen. Hier entstehen die menschlichen Eigenschaften, die wir in Zukunft brauchen, wenn wir den Menschen statt die bloße Technik in den Mittelpunkt der Digitalisierungsära rücken wollen:

  • Kreativität & Neugierde: Jeder Künstler wird bestätigen, dass echte Schöpfung dann entsteht, wenn die innere Stimme zur Ruhe gekommen ist. Es entsteht eine Art Flow, welcher als zutiefst befriedigend und produktiv empfunden wird und für die Zukunft immer wichtiger wird.
  • Kritisches Denken: Wenn uns bewusst wird, dass alle Konzepte in unserem Kopf nur von anderen Menschen stammen, die keineswegs ‚der Weisheit letzter Schluss‘ sind, fangen wir an, die Dinge zu hinterfragen und zum Positiven zu verändern.
  • Kollaboration: Wenn wir uns unserer Gedanken und somit auch Emotionen bewusst werden, entsteht quasi automatisch ein ‚Polster‘, in welchem wir, statt unbewusst zu reagieren, bewusst und empathisch agieren können. Verantwortungsvoller Umgang und Zusammenhalt statt Egoismus entsteht.
  • Resilienz: Wenn uns bewusst wird, dass wir Gefühle und Gedanken haben, aber diese nicht sind (d.h. nicht 100% damit identifiziert sind), werden wir deutlich achtsamer mit Stress umgehen. Wir werden resilienter, fokussierter und konzentrierter, was sich positiv auf unseren privaten und Bildungsalltag auswirkt.

Alle diese Punkte sind zutiefst menschliche, angeborene Fähigkeiten – nur werden sie durch unser Ego oftmals ‚verdeckt‘. Können wir diese jedoch wieder ‚ent-decken‘, können wir wieder ganz ‚Mensch sein‘: Zufrieden, empathisch und in der Ausschöpfung aller unserer Potentiale.
 

Studien aus Hirnforschung und Psychologie "entmystifizieren das Spirituelle" 

Was vielleicht auf den ersten Blick ein wenig spirituell und esoterisch klingen mag (und im Übrigen uraltes Wissen ist), ist jedoch alles andere als mystisch. Im Gegenteil: Die Hirnforschung und Psychologie haben in den letzten Jahren begonnen, die Bedeutung und positive Wirkung von gegenwärtigem Bewusstsein zu erforschen und zu belegen. Damit sind auch Trends wie Meditation, Yoga und Achtsamkeit allgemein, vor allem im hyperaktiven, immer schneller wirkenden (digitalen) Alltag, zu erklären. Die Menschen sehnen sich insbesondere durch größer werdenden Stress verschiedenster Art nach ‚innerer Ruhe‘. Gemeint ist damit aber eigentlich immer das hier beschriebene Bewusstsein.

Wenn im Bildungsbereich Ängste, Stress, Unkonzentriertheit durch Gedankensprünge und fehlende Zukunftsorientierung vorherrschen, dann ist dies immer auf Unbewusstheit durch Erfahrungen und Ego-Konditionierungen zurückzuführen. In diesem Zustand kann Bildung nicht gelingen, für unsere Gehirne ist er eine Art „Überlebensmodus“, in welchem schlichtweg keine Zeit für Lernen bleibt. Erst wenn diese jedoch beiseite rücken, blicken wir zuversichtlich nach vorne und sind unvoreingenommen bereit für neue Erfahrungen und Wissenserweiterung. Das Gehirn schaltet auf den „Schöpfermodus“ um, der wichtige Voraussetzung dafür ist, Lerninhalte erfolgreich zu vermitteln und die individuellen Fähigkeiten und Begabungen des Lernenden auszubauen. 

Trotz alledem gibt es jedoch (noch) kein Fach in der Schule, das die Umsetzung der genannten Bildungsziele erleichtert – und das, obwohl doch alles, was wir den ganzen Tag tun, durch unseren Kopf geht und dort gesteuert wird. Damit ist aber nicht nur ‚Psychologie‘ im theoretischen Sinne gemeint, sondern viel mehr die praktischen Mittel, um mit seinen eigenen Gedanken, Ängsten, Emotionen etc. bewusst umzugehen.
 

Bildungsziele umsetzen – 'Mensch sein' in den Fokus stellen

Praktisch bedeutet das z.B., dass wir uns durch gelassene, urteilsfreie Beobachtung unserer Gedanken und Emotionen (Meditation) dieser bewusst werden sollten – und diese ggf. hinterfragen. Das soll natürlich nicht heißen, dass wir ab sofort im (Aus-)Bildungsbereich nur noch meditieren und alle anderen Fächer fallen lassen sollen. Selbstverständlich sind andere fachliche Kompetenzen ebenfalls wichtig. Jedoch sollten meines Erachtens die hier genannten Aspekte das oberste Ziel sein und entweder explizit oder implizit in allen Planungen und Umsetzungen im Bildungsbereich berücksichtigt werden.

Schon bei den alten Griechen stand am Eingang des Orakels von Delphi: „Erkenne dich selbst“. Nichts anderes ist hier gemeint: Sich seines eigenen Bewusstseins bewusst werden. Zu erkennen, dass man Gedanken hat, aber eben nicht nur aus diesen besteht. Erst dann gelingt es, dass wir ganz Mensch sind und somit zufrieden, selbstbewusst und kreativ unsere eigene Zukunft und die unserer Welt mitgestalten.  
 

Konkrete Fragen an Bildungsziele

Ganz konkret kann man sich als Ausbilder/Lehrkraft stets folgende Fragen stellen, um zu überprüfen, ob dieses hier dargestellte ‚Mensch sein‘ im Fokus des Unterrichts steht und damit eine sinnvolle Vermittlung von Wissen, Kompetenzen und Fördermöglichkeiten gewährleistet ist:

  • Ist das, was wir tun, sinnvoll und stelle ich sicher, dass jeder diese Sinnhaftigkeit für sich erkennt (und somit intrinsisch motiviert ist)?
  • Sind mir und meinen Schüler/-innen Gedanken, Ängste und Emotionen bewusst, die dazu führen könnten, dass Unterricht nicht gelingt?
  • Schaffe ich eine Atmosphäre, die dazu beiträgt, dass wir alle gegenwärtig statt abgelenkt, resonant statt desinteressiert, positiv in die Zukunft blickend statt ängstlich von der Vergangenheit definiert sind?
  • Setze ich digitale Medien nicht nur im Hinblick auf technische Möglichkeiten, sondern vor allem auf bewusste, unabgelenkte Nutzung und Sinnhaftigkeit ein?
  • Achte ich auf die individuelle Potentialentfaltung jedes Einzelnen, statt auf die standardisierte Gleichbehandlung aller Beteiligten?

Wenn diese Fragen im Fokus stehen, kann man Lehrpläne entsprechend gestalten und auch der Mensch steht wieder im Mittelpunkt der Bildung im Zeitalter der Digitalisierung. Der Fragenkatalog liefert wertvolle Anregungen, um die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden zu berücksichtigen und einen aktiven Austausch über Bildungsziele anzustoßen. Was glauben Sie, wird passieren, wenn ‚Mensch sein‘ das Ziel von Bildung wäre?

Bildnachweis: © unsplash.com
Quellen:
https://www.brucelipton.com/newsletter/think-beyond-your-genes-august-2017
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3679190/
Dispenza 2012. „Breaking the Habit of Being Yourself”

 

Verfasst vom Fachexperten Dr. Jan Ullmann

Dr. Jan Ullmann ist E-Learning Trainer & Berater aus München. Seine Vision ist es, den Menschen mit seinen individuellen Talenten wieder zum Mittelpunkt der Bildung zu machen. Digitalisierte Medien sind für ihn wunderbare Werkzeuge, um menschliche Fähigkeiten wie Kreativität, Neugierde und kritisches Denken zu wecken. Er unterstützt mit seiner Arbeit öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten sowie das Lernen in der Ausbildungs- und Arbeitswelt. Kontakt: www.jan-ullmann.de | www.lernhandwerk.de